Ein lippischer Brotbeutel als Familienerbstück

"hatte er keine Brotrinde im Beutel, um seinen Hunger zu stillen"

von Dietrich Pott


Vor einiger Zeit nutzte ich einen Aufenthalt in Westfalen, jenem von Gott beschenkten Flecken Erde im Herzen Europas, bekannt durch die Schönheit seiner Landschaft, der Qualität seines Essens, der Vielzahl seiner Biere und Branntweine, der Schönheit und Tugend seiner Töchter und dem Mannesmut seiner Söhne, der Heimat des Fünften Westfälischen Landwehr-Infanterie-Regimentes, zu einem Besuch des Lippischen Landes-Museums in Detmold.
Aus einem im ersten Ausstellungsraum aufgestellten Schaukasten blickte mich etwas Leinenes an; beim näheren hinsehen entpuppten sich die Stücke als ein Rucksack zum Kartoffel schmuggeln, erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und ein Umhängebeutel, zunächst nicht genau zu bestimmen aber jedenfalls alt. Neugierig geworden trat ich näher heran, um mir das Ding näher zu besehen. Nicht daß sofort der Napoleoniker in mir erwachte, es wäre auch mehr als albern, in einem Heimatmuseum einen erhaltenen Brotbeutel aus der Zeit der Befreiungskriege zu erwarten.
Neben diesem Brotbeutel- und ich habe in meinem Leben schon genug Brotbeutel gesehen, um einen zu erkennen, wenn er vor mir liegt- stand in einem Bilderrahmen ein Zettel, in altdeutscher Schrift mit folgendem Text versehen:
"Diesen Brotbeutel hat unser Onkel August Kesting aus Detmold im Jahr 1815 vom 19. Mai bis 10. Okt. im Kriege mitgehabt. Er hat oft während des Krieges Lebensmittel durch Gottes Gnade und Freundlichkeit darin gehabt, aber auch zeitweise hatte er keine Brotrinde in dem Beutel um seinen Hunger zu stillen. Unser Onkel ist für seinen ältesten Bruder, Johann Friedrich Kesting in den Krieg gegangen, das hat ihn sein Bruder, sowie auch unser Vater Franz Kesting nie vergessen. Das war eine echte Bruderliebe".
Detmold 13. Sept. 1913 Auguste Kesting
Die Schrift war etwas arg zittrig, als sei die Autorin schon hoch in den Jahren gewesen, was nicht wundert, wenn wirklich ein Onkel von ihr noch in den Befreiungskriegen gekämpft hat. Mal sehen, wenn Johann Friedrich im wehrfähigen Alter war, muß er etwa zwanzig gewesen sein. Vielleicht konnte er nicht einrücken weil er mit dem Lipper Bataillon in Rußland gewesen war und sich noch nicht wieder erholt hatte, oder er hatte nach Rußland einfach die Nase voll. August als jüngerer Bruder müßte mindestens sechzehn gewesen sein, um überhaupt einrücken zu dürfen, wahrscheinlich war er so um die achtzehn. Wenn Franz der dritte Bruder war, vielleicht Jahrgang 1800, könnte Auguste um 1830 auf die Welt gekommen sein und wäre 1913 so um die achtzig gewesen. Paßt.
Der Beutel ist offensichtlich als Einzelstück in Heimarbeit gefertigt worden. Man sieht förmlich Mutter Kesting vor sich, wie sie am Abend vor dem Ausmarsch ihres zweiten Sohnes noch schnell einen Brotbeutel näht, weil dies nach Auskunft ihres Ältesten ein Gegenstand ist, den man als Soldat am nötigsten braucht. Als Material mußte herhalten, was eben zur Hand war, in diesem Falle ein Leinenstoff, der nur knapp über der Grenze dessen liegt, aus was man noch Hemden machen kann. Kein Reenactor würde solch dünnen Stoff für einen Brotbeutel verwenden, weil jedes darin getragene Teil spätestens beim zweiten Einsatz durch den Stoff stoßen würde. Offensichtlich müßige Befürchtungen, denn das vorliegende Stück hat ein halbes Jahr Feldeinsatz ohne Beschädigung überstanden und danach noch 180 Jahre durchgehalten.
Das Leinen wurde von einem Ballen von 50 cm Breite abgeschnitten, zusammengeklappt, an den Webkanten und am unteren Ende mit groben Stichen zusammengenäht und der so entstandene Beutel umgestülpt. Dann wurde das obere Ende vorne eingenäht und hinten, wo der Stoff länger gelassen wurde, zu einem kleinen Deckel mit einem Knopfloch geformt. An das obere Ende der Front ein Beinknopf, an die Rückseite ein Trageriemen, fertig war der Brotbeutel. Herstellungsdauer des von mir gefertigten Nachbaues: Etwa vier Stunden, aber ich nähe auch nicht besonders schnell.
Die Maße des Beutels: Breite 25 cm, Höhe 40 cm, Höhe des Deckels 7 cm, Länge des Trageriemens 107 cm, Breite des Trageriemens 3 cm, Durchmesser des Knopfes 2 cm,
Zur Herkunft des guten Stückes konnte man mir nicht viel sagen, nur daß vor einiger Zeit (das kann in einem Museum heißen "letztes Jahr" oder auch "vor dem letzten Krieg") eine Familie die Hallen durchstreifte und beim Anblick des Beutels ausrief: "Das ist ja Opas alter Sack!" Oder so ähnlich. Jedenfalls wollte die zuständige Dame versuchen mehr herauszubekommen und sich dann wieder bei mir melden. Darauf warte ich noch. Vielleicht bekomme ich die gesamte Geschichte dieses unersetzlichen Einzelstückes noch zusammen.
Leider wurde der Brotbeutel im letzten Jahr schwer restauriert und geflickt, gewaschen und gestärkt. Natürlich mit modernem Material. Dabei verschwanden auch die braunen Flecken, welche bei meiner ersten Besichtigung noch deutlich zu erkennen waren und von meiner Phantasie für Blut gehalten wurden, wahrscheinlich aber nur aus Rost bestanden. Und der interessante Beinknopf mit vier "normal" angeordneten und dem einen "zentralen" Loch war jetzt nicht mehr sternförmig, sondern "modern" angenäht. Wir wissen ja heute Gottlob viel besser, wie so etwas gehört.

Siehe auch: http://www.grosser-generalstab.de/